Es war einmal ein kleiner Rabe. In der Schule lernte er fleißig, so daß er schon nach kurzer Zeit richtig gut lesen konnte. Manchmal las der kleine Rabe ein ganzes Buch in einem Zug durch und konnte sich trotzdem alles merken, was er gelesen hatte.
Gern hätte er den ganzen Tag nur gelesen, aber seine Mutter schickte ihn manchmal in den Garten, spielen, manchmal auch einkaufen oder Abendbrotwärmer fangen. Der kleine Rabe wollte lieber lesen. Deshalb nahm er sein Buch mit ins Bett und las dort, bis es ganz, ganz finster war. Eigentlich war er trotzdem ein sehr lieber Rabe.
Seine Mutter bemerkte eines Tages: „Wieso ißt du nie deinen Teller richtig leer? Schau mal, hier liegen noch lauter kleine Räupchen drauf!“ Der kleine Rabe wunderte sich. Er hatte sie wirklich nicht gesehen. „Du brauchst eine Brille!“ entschied die Mutter.
Doktor Schaumirindieaugenkleines bestätigte: „Sie haben recht, liebe Frau Rabe, der Kleine braucht dringend eine Brille.“
Der kleine Rabe war ziemlich stolz auf seine neue selbstausgewählte Brille. Sie stand ihm ausgezeichnet zu Gesicht. Nun konnte der kleine Rabe noch viel schneller seine Bücher durchlesen und auch sein Teller war immer ordentlich abgegessen. Der Rabe lernte auch rechnen und Schönschrift und Käferkunde. Nur im Singen war er nicht so sehr gut.
Einmal hatte er eine Idee: „Ich möchte meiner Mutter etwas schenken. Ein schönes Tuch für den Hals, sie friert so leicht und außerdem wäre es bestimmt oberschick. Ich werde arbeiten und Geld verdienen und ein Tuch kaufen und es meiner Mutti zu Weihnachten schenken!“
Er lief sofort los, um sich eine Arbeit zu suchen. Am Schloßplatz traf er einen Schornsteinfeger. Der kleine Rabe hatte schon oft gesehen, wie der Schornsteinfeger auf den Dächern entlanglief und die Essen reinigte. Eine gute, wichtige Arbeit.
Der kleine Rabe sprach den Schornsteinfeger an: „Brauchen sie nicht einen Gehilfen? Ich habe meinen Arbeitsanzug schon an!“
Der nette Schornsteinfeger überlegte gar nicht lange. Die Arbeit war schwer und er fühlte sich auch ein bißchen einsam oben auf den Dächern. „Klar, du kannst bei mir anfangen!“ Die beiden begaben sich auf das Dach und der kleine Rabe sollte die Kugelbürste in die Esse hinab lassen. Was er auch versuchte. Da aber die Kugelbürste sehr schwer und der kleine Rabe recht klein war, sauste er der Bürste gleich hinterher. Es staubte fürchterlich, bis der Schornsteinfeger den kleinen Raben und die Kugelbürste wieder heraufgezogen hatte. Der Schornsteinfeger sagte: „Vielleicht bist du für diese schwere Arbeit wirklich noch zu klein. Aber noch nie ist eine Esse so schnell sauber geworden.“ Der Rabe, dem vom vielen Staub und Ruß die Augen tränten, verabschiedete sich. Er war sicher, daß Essen kehren nicht die richtige Arbeit für ihn sei.
Er lief die Burgstraße hoch und entdeckte einen wunderbaren Laden mit vielen Tieren. „Hier kann ich mich sicher nützlich machen“, dachte er und ging hinein. Gleich sprach er Herrn Schneider an: „Ich kann die Tiersprache und die Menschensprache. Wenn ein Kunde nicht weiß, welches Tier bei ihm leben möchte, kann ich die Tiere fragen und Bescheid sagen! Ich will bei dir arbeiten und Geld verdienen und meiner Mutter ein Halstuch zu Weihnachten schenken!“
Herr Schneider rief seine Frau und sie beratschlagten ein bißchen. „Klar, du kannst bei uns anfangen. Aber die Würmer und die Mäuse werden nicht gegessen!“ Der kleine Rabe war glücklich. Er sprang im Laden hin und her und schwatzte mit den Tieren. Es gefiel ihm richtig gut. Ein Mann betrat den Zooladen. Er wolle für seine Frau einen Vogel kaufen. Der Vogel solle groß und schön sein und möglichst sprechen können. Als das der kleine Rabe hörte, bekam er Angst. Er befürchtete, verkauft und in einen Käfig gesperrt zu werden und flatterte schnell weg.
Fast hätte er seinen Plan, Geld zu verdienen und seiner Mutter ein Tuch zu kaufen, aufgegeben. Eigentlich war der kleine Rabe in diesem Augenblick sogar sehr niedergeschlagen. Aber was war das? Ein Laden, schöner als alle anderen! Mit vielen Büchern im Schaufenster! Ein wunderbarer Laden.
Er wagte noch einen Versuch und trat ein. Überwältigt stand er da, tausend Bücher oder mehr, er war richtig sprachlos. Eine kleine Frau mit einer blauen Jacke stand hinter dem Ladentisch. Blau war schon immer die liebste Lieblingsfarbe des kleinen Raben gewesen. Er hüpfte auf den Ladentisch. Die kleine Frau schaute dem kleinen Raben in die Augen und der kleine Rabe schaute der kleinen Frau in die Augen.
Leute, die dabeigestanden haben, sagten später, die beiden hätten richtig fast ein bißchen verliebt ausgesehen. Liebe auf den ersten Blick. Es kann ja aber auch die blaue Jacke gewesen sein.
Der kleine Rabe flüsterte: „Kann ich bei dir arbeiten und Geld für ein Tuch für meine Mutter verdienen?“ Die kleine Frau flüsterte zurück: „Geht klar. Ich bin die Heike.“ Der kleine Rabe sagte: „Ich bin der Rabe. Ich kann Ordnung in den Bücherregalen halten und ein bißchen staubwischen. Nachts lese ich die Bücher und erzähle dir dann, was drinsteht. So weißt du immer Bescheid.“ „Geht in Ordnung“, sagte Heike, „ich hab hier sogar schon ein Tuch. Wenn es dir gefällt, schenkst du es deiner Mutti zu Weihnachten.“
Soweit so gut, beide machen nicht viele Worte, sie kommen gut klar, arbeiten zusammen und vielleicht – kein Mensch weiß es genau – sind die beiden doch ganz schön verliebt.