In unserer Kultur sind Geister entweder unglückliche oder boshafte Seelen, manchmal auch in Kombination. Man wird ihr Opfer und man kann sie erlösen und dann ist die Geschichte aus.
In Japan ist die Situation etwas komplexer. Geister und Naturwesen haben eine eigene Existenz, sie sind nicht notwendigerweise die unruhigen Seelen von Verstorbenen (obwohl auch das möglich ist) und vor allem sind sie in der Regel nicht böse, sondern hilfreich und gut. Selbstverständlich gibt es in Japan auch die klassischen Gruselwesen, zu denen der Wassergnom Kappa oder auch der Fuchs gehört. Überall in Japan gibt es Inari-Schreine mit buchstäblich Tausenden steinerner Fuchsskulpturen, die den zwielichtigen Gesellen milde stimmen sollen.
Im zweiten Band der „Japanischen Geistergeschichten“ geht es um genau diese Wesen aus der Zwischenwelt, wie sie belohnen und strafen. Lafcadio Hearn, dessen literarisches Werk ab 1894 maßgeblich zur Wahrnehmung von Japan im Westen beigetragen hat, enthält zahlreiche klassische Geistergeschichten, deren Motive sich auch in der Populärkultur wiederfinden. Wer Anime oder Manga mag, der wird sie schnell wiedererkennen.
Wie bereits den ersten Band hat Benjamin Lacombe auch diesen wunderschön illustriert, mit unverkennbaren Referenzen auf berühmte Anime (bei den kleinen Baumgeistern grüßt zum Beispiel „Prinzessin Mononoke“). Er hat auch schon für Animationsstudios gearbeitet, es ist also kein Zufall. Besonders bewundert habe ich, wie sehr Lacombe die japanische Ästhetik verinnerlicht und daraus trotzdem einen ganz eigenen Stil entwickelt hat. Die gestalterische Sorgfalt setzt sich in Layout und Ausstattung fort, die wie aus einem Guss wirken.
Insbesondere dieser zweite Band enthält eine ganze Reihe Geschichten, die erstmals ins Deutsche übersetzt wurden, es sind also nicht nur die schon oft und in verschiedenen Zusammenstellungen publizierten Übersetzungen von Berta Franzos und Gustav Meyrink, sondern auch ein paar Überraschungen dabei.